Wie ist es um die Pflege in der Samtgemeinde bestellt? – Gespräch mit Nikolaus Lemberg
Es ist noch gar nicht so lange her, da war es normal, dass mehrere Generationen unter einem Dach lebten und „die Alten“ von ihren Kindern gepflegt wurden, wenn dies erforderlich wurde. Auch bei uns zuhause war es so: Unsere Oma lebte bei uns im Haus auf ihrem Altenteil und wurde – als sie dann irgendwann nach einem langen Leben voller Arbeit darauf angewiesen war – von unserer Mutter und unserer Tante, die ebenfalls bei uns im Haushalt lebte, versorgt und gepflegt. Unsere Oma verstarb mit 93 Jahren im Schoße der Familie. Dies war nur deshalb möglich, weil unsere Mutter ihren Arbeitsplatz beim uns im Haus und Garten hatte.
Heutzutage ist den meisten Menschen eine Pflege von Angehörigen ohne professionelle Hilfe nicht mehr möglich. Als wir vor kurzem selbst in die Situation gekommen waren, dass wir Unterstützung bei der Pflege brauchten, merkten wir, wie schwierig es ist, professionelle Hilfe zu bekommen. Ich wollte es genauer wissen, ob wir uns Sorgen machen müssen und habe im Mai 2024 mit Nikolaus Lemberg von der Interessengemeinschaft e. V. über die Pflegesituation in der Samtgemeinde gesprochen:
Jens: Lieber Nikolaus, eine Frage an Dich als Eyendorfer: Beim MTV Eyendorf gibt es eine Regel, wonach man eine Kiste Bier ausgeben muss, wenn man es auf die Titelseite des “Winsener Anzeigers” schafft. Wie viele Kisten hättest Du im vergangenen Jahr ausgeben müssen?
Nikolaus (lacht): Ich habe es jetzt nicht gezählt, aber wenn ich mal so rückwärts abspule, würde ich sagen, drei, vier Kisten wären es gewesen: Also mehr, als ich alleine trinke.
Jens: Den Eindruck hatte ich auch. Das ist ja schon ein sehr aktuelles Thema: die Pflege.
Seit dem 1.9.2022 gibt es eine Verpflichtung der Pflegeheime und der ambulanten Pflegedienste, die Arbeitsentgelte dem TVöD anzupassen. Ab März 2024 gab es dann eine tarifliche Erhöhung der Entgeltgruppen um einen Sockelbetrag von 200 Euro plus 5,5 Prozent, mindestens aber 340 Euro. Kannst du sagen, inwieweit sich bei Euch die Arbeitsentgelte seit 1.9.2022 erhöht haben?
Nikolaus: Ja, das sind tatsächlich zwischen 20 und 25 Prozent Erhöhung. Und das ist im Kontext dieser Tariftreue-Regelung passiert. Wir haben uns aufgrund der Situation, dass wir nicht nur Pflege, sondern auch Schulkindbetreuung und Schulassistenz haben, für die Anlehnung an den TVöD entschieden. Andere haben sich für das “regional übliche Entgelt” oder für kirchliche Arbeitsrechtsregelungen entschieden, was ebenso möglich gewesen wäre.
Jens: Aber diese Differenzen, die zahlen doch die Kassen, oder?
Nikolaus: So steht es im Gesetz, es passiert aber nicht. Wie kann das sein? Im Ergebnis versagt hier die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen.
Selbstverwaltung in diesem Sinne sind die Leistungserbringer und die Kostenträgerverbände, die die Vergütungsvereinbarungen schließen und so weiter. Und da stellen sich die Krankenkassen stur und sagen: Nö, machen wir nicht. Oder verweisen auf andere Bereiche, in denen bereits eine Anpassung erfolgte.
Die Interessengemeinschaft ist ein gemeinnütziger Verein. Hier muss kein Unternehmergewinn erzielt werden. Aber obwohl wir darauf verzichten, kommen wir nicht auf eine schwarze Null. Und das beweist ja eigentlich schon, dass dieses neue Modell der Tariftreue so nicht funktionieren kann.
Jens: Hast du den Eindruck, da ist Land in Sicht oder hast du da keine Hoffnung?
Nikolaus: Nein, habe ich tatsächlich im Moment nicht. Weil es immer dann wieder diesen Verschiebebahnhof gibt. Der Bund sagt, haben wir doch gemacht, es mangelt an der Umsetzung. Die Kassen sagen, da muss der Bund in der Gesetzgebung nachsteuern. Das Land sagt, wir können auch nichts machen. Wir haben zwar die Rechtsaufsicht, aber die AOK, die ist da frei in ihrer Gestaltung. Also: der eine verschiebt es auf den anderen.
Jens: Wie trägst du jetzt gerade die Mehrkosten, wie läuft das tatsächlich?
Nikolaus: Tatsächlich ist es so, dass wir Rücklagen aufbrauchen, die wir für ganz andere Dinge angespart haben. Also zum Beispiel seht ihr vor dem Haus E-Autos stehen, die noch nicht in Betrieb genommen sind. Geplant war die Erstellung einer Photovoltaikanlage in Kombination mit E-Ladesäulen. Dieses Projekt verschieben wir jetzt erstmal in die nächsten Jahre, weil wir die Investitionskosten gerade ins Personal stecken.
Jens: Anfang Oktober 2023 habt ihr, also du und deine Kollegen von der “Initiative Pflegestopp”, die Pflege symbolisch zur Grabe getragen. Anlass war, dass etliche Pflegeeinrichtungen hier im Landkreis schließen mussten. War die Steigerung der Personalkosten der einzige Grund dafür, dass diese Unternehmen ihren Betrieb nicht weiterführen konnten, oder gab es da noch andere Gründe?
Nikolaus: Also man muss das tatsächlich unterscheiden. Die Situation von ambulanten Pflegediensten ist überall so, wie ich es hier erlebe. Die Personalkosten drehen uns einfach den Hahn zu, weil sie nicht refinanziert sind. Die stationären Betriebe haben ein anderes Problem, das sie in die Insolvenz führt:
Die stationären Betriebe haben unterschiedliche Aufsichtsbehörden, die ihnen auf die Finger gucken und die wichtigste ist die Heimaufsicht. Die Heimaufsicht begrenzt bei einer Unterschreitung einer bestimmten Fachkraftquote die Bettenbelegung. Dann werden mehrere Zimmer, eine Station oder eine ganze Etage in so einem Heim gesperrt.
Und wenn man dann weiß, dass die Kostenvereinbarung mit den Pflegekassen immer auf 95% Auslastung gerechnet ist und nur dann funktioniert, dann heißt eine Sperrung einer ganzen Etage oder einer Station, dass die Betriebe wirtschaftlich nicht mehr auf einen grünen Zweig kommen können.
Es sind natürlich auch nicht nur Pflegeeinrichtungen im Landkreis Harburg betroffen. Wenn man über die Landkreisgrenze schaut, dann sind auch Pflegeeinrichtungen in Amelinghausen, Kirchgellersen, Westergellersen, also in der ganz konkreten Umgebung betroffen. Und all das drückt natürlich noch mehr auf die ambulante Versorgung und lässt hier noch mal häufiger die Telefone schellen, weil die Leute in ihrer Not auf die ambulante Versorgung durch uns zurückgreifen.
Jens: Okay, das ist jetzt ein schon paar Monate her, hat sich seitdem schon irgendwas verändert?
Nikolaus: Nein. Also man fragt sich wirklich, wer eigentlich in der großen Politik noch auf was wartet. Die Alarmzeichen sind so deutlich und wir haben uns ja nun schon vor etwa zwei Jahren mit einem Appell an die kommunale Ebene gerichtet. Ich meckere über die Bundes- und Landespolitik und über die Selbstverwaltung, aber ich bin auch darüber frustriert, dass vonseiten derjenigen, die kommunal in den Gemeinden und auch im Landkreis die Verantwortung tragen, ein richtiger Druck, ein Aufbäumen nicht stattfindet und das wird uns allen vor die Füße fallen. Hier in der Samtgemeinde Salzhausen werden in den nächsten Jahren die Familien als Angehörige pflegebedüftiger Menschen keine Versorgung mehr finden. Und spätestens dann ist die Pflege eben doch ein kommunales Thema.
Jens: Was genau meinst du, könnten oder sollten die Kommunen denn tun? Also insbesondere die Samtgemeinde oder die Gemeinden, das ist natürlich das, was mich besonders interessiert. Was kann ich tun, wenn ich Samtgemeindebürgermeister würde, um die Situation für euch und die Pflegeheime zu verbessern? Nach oben Druck machen?
Nikolaus: Nach oben Druck machen ist ein Punkt. Der Landkreis steht in der Verpflichtung, eine kommunale Pflegeplanung zu machen, das hat der Gesetzgeber dem Landkreis auferlegt. Das macht er für mich wahrnehmbar – schon seit mehreren Jahren – nicht. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Mitglieder in den kommunalen Räten dann auch fragen, ob das jetzt überhaupt ihr Thema ist.
Es ist aber nicht nur eine kommunale Pflegeplanung, sondern es ist auch eine regionale und lokale Pflegeplanung erforderlich, welche unterhalb des Landkreises stattfinden könnte. Man sollte sich auch mit den Nachbarkommunen unterhalten, wie denn die Lage zum Beispiel Richtung Samtgemeinde Hanstedt ist. Da fehlt es nämlich an ausreichenden Kapazitäten.
Jens: Wir haben ja hier in Salzhausen mit der Tagespflege vom Heidmarkhof, den Johannitern und der Tagespflege Witthöftsfelde drei Einrichtungen der Tagespflege. Dann haben wir Angebote der stationären Pflege im Heidmarkhof und in Garstedt, zudem ambulante Pflege durch euch, von “Pflege zu Haus” vom Heidmarkhof und durch die Johanniter. Und dann gibt es betreutes Wohnen im Maschensfeld, im Heidmarkhof und im Witthöftsfelde.
Salzhausen selbst scheint ja ganz gut versorgt zu sein. Wird das dem aktuellen Bedarf gerecht? Und wenn man mal nicht nur auf die Gemeinde Salzhausen schaut, sondern insgesamt auf die Samtgemeinde, wie siehst du da die aktuelle Versorgung mit Pflegeangeboten?
Nikolaus: Was wir hier überall zu wenig haben, ist die Wohnortnahversorgung mit innovativen neuen Wohn- und Betreuungsformen.
Jens: In Neu Wulmstorf ist jetzt aktuell ein neuer Komplex mit über 6.500 Quadratmeter Mietfläche entstanden. Die Pflegeeinrichtung wird von einem Unternehmen betrieben, das deutschlandweit mit 3.700 Mitarbeitern tätig ist, außerdem auch in China und Österreich. Ändert sich gerade die Marktstruktur in der Pflegebranche?
Nikolaus: Nach meinem Bauchgefühl sind die Großen auch schon wieder auf dem absteigenden Ast. Börsennotierte Player im Pflegebereich gibt es schon seit 15, 20 Jahren, aber zunehmend greift es um sich. Und gleichzeitig ist klar, dass das nicht funktionieren wird, weil die großen Einrichtungen in der Ansprache ihrer Mitarbeitenden keinen Fuß auf die Erde kriegen. Das heißt, die können diese Herausforderung, die ja immer eine persönlich menschliche ist, aufgrund ihrer Konzernstruktur überhaupt nicht erfüllen. Wer das kann, ist so eine Einrichtung wie hier der Heidmarkhof.
Jens: Wie bekommen diese Konzerne das denn wirtschaftlich hin? Haben die ausreichend viele Pflegefachkräfte, so dass die Heimleitung nicht einschreiten muss?
Nikolaus: Bei einer großen Einrichtung in Winsen stand der Neubau ein Dreivierteljahr leer und ist jetzt erst belegt worden, weil durch die Insolvenzen der anderen Pflegeheime nicht nur die Kunden, sondern auch die Mitarbeiter in diese Einrichtung gewechselt sind. Den Neubau hätte der Betreiber gerne schon vor einem Dreivierteljahr belegt, konnte es aber nicht. Jetzt kann er es.
Jens: In Scharmbeck betreibt ihr eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz. Warum gibt es nicht mehr alternative Wohnprojekte wie zum Beispiel Alten-WGs?
Nikolaus: Wir brauchen ganz andere Formate, weil wir es einfach nicht mehr personell bewältigen werden. Die Leute lassen sich nicht zu dem ausbilden, zu dem wir sie gerne ausbilden wollen. Und wenn wir nicht zufälligerweise vor Jahren begonnen hätten, Menschen aus dem Kreise der Geflüchteten auszubilden, hätten wir gar keine Auszubildende.
Wohnformen für spezielle Zielgruppen, ambulant betreute Wohngemeinschaften, Generationenwohnen: Aktuell fehlt hier auf dem Land noch die Fantasie, solche Wohnformen auf den Weg zu bringen. Ich sehe definitiv auch die Kommunalparlamente und die Samtgemeindeebene in der Verantwortung, solche Ideen zu realisieren. Andere Bundesländer sind da viel weiter. Es wird dahin gehen, dass die Wohnformen im Alter sich verändern, und dann kann man sich darum kümmern oder es einfach nur so passieren lassen. Ich würde sagen, der richtige Weg ist, sich darum zu kümmern.
Jens: Wie geht es deinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? Hast du bei all den Anforderungen auch noch ein Auge auf die Mitarbeitenden?
Nikolaus: Doch, wir bemühen uns. Ich bemühe mich da selbst. Also ich glaube, was die Mitarbeitenden hier schätzen, ist, dass der Geschäftsführer und die Leitungskräfte ein offenes Ohr auch für die kleinen Themen des Lebens haben.
Wir bemühen uns um mitarbeiterfreundliche Dienstzeiten und kümmern uns um die Menschen, mit denen wir hier zusammen leben und arbeiten.
Jens: Wenn du jetzt mal so in die Zukunft schaust, wie würde das in 30 Jahren aussehen, wenn wir beide alt sind und gepflegt werden müssen?
Nikolaus: Also noch viel bunter. Ich hoffe, dass wir es dann auch wieder hinkriegen, dass junge Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, die Pflege als attraktiven Beruf wahrnehmen. Da wird sich dann hoffentlich das auszahlen, was wir jetzt im Moment so als leidvollen Weg empfinden: Die Einführung der Tariftreue.
„Die Pflege ist der bestbezahlte Ausbildungsberuf, den man überhaupt ergreifen kann.“
Aber man muss auch deutlich darauf hinweisen, dass die Pflege der bestbezahlte Ausbildungsberuf ist, den man überhaupt ergreifen kann. Nirgends kann man mehr Geld während der Ausbildung verdienen als in der Pflege. Es wäre schön, wenn insbesondere junge Menschen wieder den Wert solcher Berufe erkennen, ganz unabhängig von der Vergütung.
Jens: Wie kann man das machen? Wie kann man den Beruf attraktiver machen?
Nikolaus: Man kann nur immer wieder darüber erzählen und einfach mit Menschen im Gespräch sein. Gerade auch in den Phasen, wo es für Familien, für Einzelne, als Angehörige, als pflegende Angehörige so bedeutsam wird. Wir haben auch Beratungsangebote und Kurse für pflegende Angehörige. Und es ist nicht selten, dass Menschen nach einer Pflegesituation in der Familie einen beruflichen Umstieg oder eine Neuorientierung hin zur Pflege anstreben. Und so entstehen da im lokalen Bereich immer neue Kontakte.
Jens: Hast du noch weitere Wünsche an die kommunale Politik?
Nikolaus: Ich würde mir wünschen, dass man intensiver über altersgerechtes Wohnen nachdenkt. Das Thema altersgerechtes Wohnen ist komplex und fängt unter anderem bei den Wohn- oder den Bebauungsplänen an. Es ist schön, wenn die KWG im Wohngebiet „Witthöftsfelde Süd“ in Salzhausen kleinteilige Wohnungen baut, aber gibt es auch Grundrisse im Angebot, die zum Beispiel Wohngemeinschaften ermöglichen? Und es gibt ja bauliche und Architektur-Konzepte, wonach bei einer Einzelwohnung nach Entfernung einiger weniger Wände ein Grundriss mit Gemeinschaftsraum und Gemeinschaftsküche entsteht, der sich als Wohngemeinschaft eignet.
Jens: Lieber Nikolaus, vielen Dank für dieses sehr interessante Gespräch!
Wenn wir hier vor Ort in Würde alt werden wollen, müssen wir entsprechende Angebote für altersgerechtes Wohnen auf der Grundlage der Bauleitplanung schaffen. Auch die Möglichkeit, alternativen Wohnformen zu schaffen, sollte man ganz konkret in Erwägung ziehen. Hierzu halte ich es für unbedingt erforderlich und absolut hilfreich, auch diejenigen nach ihren Wünschen und Vorstellungen zum altersgerechten Wohnen zu fragen und konkret zu beteiligen, die jetzt schon davon betroffen sind: Die heutigen Seniorinnen und Senioren. Außerdem benötigen die Institutionen vor Ort die Unterstützung der Kommunen. Wir können und dürfen nicht darauf vertrauen, dass andere unsere Zukunft planen und gestalten. Darum müssen und wollen wir uns selbst kümmern. Ich bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam gute Lösungen finden werden.